Herr Koenigs, wie erinnern Sie sich an die Zeit rund um den Sonderparteitag ihrer Partei 1999 in Bielefeld, bei dem Joschka Fischer einen Farbbeutel ans Ohr geworfen bekam?
Die Partei war damals zerstritten. Der rote Farbbeutel wurde zum Symbol der Spaltung. Weil wir mit Joschka Fischer den Außenminister stellten, wurde eine wichtige friedenspolitische Debatte öffentlich ausgetragen. Es wurde über die Verantwortung Deutschlands in der Welt diskutiert. Auch bei der Bundeswehr ging es um den Ernstfall, über den sie Jahrzehnte nur gesprochen hatte.
Worin bestand seinerzeit der Identitätskonflikt der Grünen?
Die Frage war: Darf man zur Verteidigung eines Volkes und zur Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen die Waffe ergreifen? Das war ein Konflikt, der innerhalb der pazifistischen Bewegung kontrovers diskutiert worden ist. Die Friedensbewegung innerhalb der Grünen, die schon gegen die Wiederbewaffnung demonstriert hatte, hat da natürlich einen radikalen Standpunkt gehabt.
Joschka Fischer sagte damals: Nie wieder Krieg. Aber auch nie wieder Auschwitz.
Der Vergleich mit Auschwitz war überzogen. Fischer hätte sagen sollen: Nie wieder Völkermord. Das im Kosovo schwere Kriegsverbrechen passierten, war offensichtlich.
Gerhard Schröder sagte vor kurzem, dass er durch die deutsche Beteiligung am NATO-Einsatz im Kosovo gegen Völkerrecht verstoßen habe. Wie Wladimir Putin mit dem russischen Einmarsch auf der Krim. Diesen Vergleich hat Ursula von der Leyen bei ihrem Truppenbesuch im Kosovo abgelehnt.
Schröder vergleicht Äpfel mit Birnen. Es ist richtig, dass es damals kein Mandat des UN-Sicherheitsrats gab. Der Völkermord zwang die NATO zu handeln. Die russische Invasion auf der Krim hat niemanden geschützt, sondern die territoriale Integrität eines Landes und seine Menschen bedroht. Gegenüber Putin ist Herr Schröder aber so etwas wie der Blinde unter den Einäugigen.
Sie sind 1999 in den Kosovo gekommen, um als UNO-Verwaltungschef eine Zivilverwaltung aufzubauen. Was für ein Land haben Sie vorgefunden?
Kosovo war ein typisches südosteuropäisches Land. Etwa 25 Prozent der Kosovaren hatten bereits in Deutschland und der Schweiz gearbeitet, viele Menschen sprachen Deutsch oder Englisch. Die albanische Bevölkerung feierte den Einmarsch der Bundeswehr. Es war ein schwäbischer Leutnant, der in Prizren den ersten Schuss eines deutschen Soldaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs abgab. Er schoss auf ein Fahrzeug mit um sich feuernden Serben. Die neuen Machtverhältnisse war dadurch zum Glück schnell geklärt.
Die Verhältnisse waren auf den Kopf gestellt.
Bedauerlicherweise hat die KFOR die serbische Minderheit danach nicht umfassend schützen können. Sie wurden vertrieben, ihre Häuser wurden abgebrannt. Das war eine schwere Belastung für den KFOR-Einsatz. Es ist nicht gelungen, die öffentliche Sicherheit so weit herzustellen, dass Minderheiten im Kosovo sicher leben konnten. Darunter haben auch die Roma gelitten, denen die albanische Bevölkerung vorwarf, mit den Serben zusammengearbeitet zu haben.
Was hat KFOR erreicht?
Die KFOR hat es geschafft, den äußeren Frieden zu halten. Der Kosovo ist nicht mehr in einen Krieg mit Serbien hineingezogen worden. Da gab es 1999 große Befürchtungen. Für den inneren Frieden waren Polizei und Justizsystem lange zu schwach.
Was waren nach dem Ende des Krieges die drängsten Probleme des Landes?
Die gesamte Verwaltung des Kosovo war bis 1999 in serbischer Hand. Besonders Beamte und Offizielle sind geflohen. Die Rathäuser standen leer. Selbst in Pristina gab es keine Verwaltung mehr. In dieses Vakuum sind sehr schnell Kräfte der UCK eingerückt. Wir haben versucht, eine demokratisch legitimierte Verwaltung aufzubauen. Es ging darum, Geburts- und Heiratsurkunden auszustellen. Um die Wasser- und Elektrizitätsversorgung, für die es keine Rechnungen gab. Darum, dass der Müll abgeholt wird, dass Krankenhäuser funktionieren und Beamten ihren Lohn bekommen.
Welche Perspektive hat der Kosovo?
Ich habe nicht geglaubt, dass das Land so langsame Fortschritte macht. Der Kosovo wird nicht mehr in einen Krieg zurückfallen. Das war lange nicht selbstverständlich, weil es in Südserbien und Mazedonien Unruhen gab. Im Nordkosovo haben radikale, von Belgrad unterstützte Serben gegen die Souveränität des Kosovo gekämpft. Die Perspektive von Kosovo und Serbien ist Europa. Beide Länder streben den europäischen Arbeitsmarkt an, das müssen sie auch.
Immer noch ist fast jeder zweite Kosovare ohne Job. Woran liegt das?
Arbeitslosigkeit ist in ganz Südosteuropa das drängendste Problem. Die agrarische und die industrielle Struktur des Landes sind äußerst schwach. Die meisten kosovarischen Unternehmen sind für Europa noch nicht konkurrenzfähig. Kosovaren haben sich deshalb immer als Arbeitsimmigranten in Europa gesehen.
Was muss passieren, dass der Kosovo ein europäisches Land wird?
Für einen Beitritt zur EU muss der Kosovo Rechtsstaatlichkeit garantieren. Davon ist man noch weit entfernt. Der Konflikt zwischen Albanern und Serben ist noch nicht beigelegt. Der Kosovo wird nicht von allen UN-Mitgliedsstaaten anerkannt, noch nicht einmal von allen europäischen Nationen. Ein Beitritt ohne Anerkennung durch Belgrad ist weder vorstellbar noch zu wünschen. Dass sich die EU noch ein zweites Zypern mit ungelöster Grenzfrage einhandelt, kann man nicht erwarten.
Ist der erste Schritt also der EU-Beitrtt Serbiens?
Einen EU-Beitritt Serbiens sollte es nur geben, wenn Belgrad dabei den Kosovo als Staat anerkennt. Das ist momentan alles andere als sicher.
Momentan sind noch rund 5000 KFOR-Soldaten im Kosovo, darunter 750 Deutsche. Ist KFOR verteidigungspolitisch ein Erfolg?
Es ist richtig, dass es weiterhin eine symbolische KFOR-Präsenz gibt. Die NATO macht damit deutlich, dass sie sich der Verantwortung für die Sicherheit des Landes nicht entzieht. KFOR hatte zu Beginn des Einsatzes eine schwere Bewährungsprobe, weil sie russische Truppen integrieren musste.
Russen und Amerikaner standen sich 1999 am Flughafen von Pristina gegenüber...
Der britische Kommandant Michael Jackson hat damals eine bemerkenswerte militärische Leistung vollbracht. Als die KFOR nach Pristina kam, waren die Russen schon da. Am Flughafen von Pristina gab es deshalb Spannungen mit den Amerikanern, die darin gipfelten, dass Jackson sich weigerte, den Befehl des US-Generals Wesley Clark zu befolgen. Jackson sagte: „I won't start world war III for you“. Das war sehr mutig. Ihm gelang es, mit beiden Seiten so zu verhandeln, dass es trotz des russischen Vetos im UN-Sicherheitsrat eine Kooperation gab. Das war für die Befriedung des Balkans enorm wichitg. Eine solche Entwicklung ist heute in Syrien und der Ukraine leider nicht mehr vorstellbar.
Der Deutsche Bundestag hat den KFOR-Einsatz der Bundeswehr erneut um 12 Monate verlängert. Ursula von der Leyen sprach von einem „langsamen Ausgleiten“ der Mission. Sehen Sie eine Abzugsperspektive?
Ich finde, man hat zuletzt zu viel über die Misserfolge in Afghanistan und zu wenig über die Erfolge des Einsatzes im Kosovo gesprochen. Es ist positiv, dass sich die Anzahl der Truppen deutlich verringern ließ. Deutschland sollte den Kosovo erst mit allen NATO-Mitgliedern verlassen: Gemeinsam rein, gemeinsam raus.
Hat der Kosovo-Krieg rückblickend aus den Grünen eine andere Partei gemacht?
Nein. 1999 sind zwar viele Mitglieder aus der Partei ausgetreten, dafür haben wir auch Mitglieder hinzugewonnnen. Dass sich die Grünen einer friedenspolitischen Debatte gestellt haben, war unausweichlich. Wir haben uns damit auch gegenüber Parteien wie der Linken positioniert: Wir sind der Meinung, dass die NATO eine Friedensmacht ist und nicht Kriegstreiberei betreibt. Dass man bei Völkermord zu den Waffen greifen kann und muss, ist mittlerweile Konsens bei den Grünen.
Die Fragen stellte Christoph Dorner