Studentenproteste in Pristina

Dagegen! Dafür! Zukunft!

Die Studenten der Universität Pristina haben ihren Rektor mit Protesten fortgejagt, weil sie ihn für einen Betrüger hielten. Doch was sich zunächst wie ein akademischer Kleinkrieg anlässt, offenbart mehr: die tief liegende Wut und Hoffnungslosigkeit einer ganzer Generation. Von Christina Schmidt

Als die Polizei kam, musste Liridonë Demaj daran denken, wie sie manchmal mit ihrer Mutter scharfe Paprika einlegt. Wenn sie dabei unvorsichtig ist, reibt sie sich die Gewürze mit ihren verschmierten Fingern in die Augen, sie brennen dann fürchterlich. Das Pfefferspray der Polizisten, sagt sie, schmerzte viel mehr.

Wochen später sitzt die Studentin in einem Café in der Innenstadt Pristinas. Sie bestellt einen Burger und vergisst, ihn zu essen, als sie mir von diesem Tag im Februar erzählt – an dem sie aufhörte, alles zu akzeptieren. Sie hatte Demonstranten gesehen, die vor Rauchbomben flohen, den gebrochenen Arm einer Freundin, die Verhaftung eines Freundes. Sie glaubt, einen Stein in der Hand eines Zivilpolizisten gesehen zu haben. Das alles nur, weil die Protestierenden den Rücktritt des Universitätsrektors forderten, der, so sind sie überzeugt, nach akademischen Kriterien betrogen hatte.

Copyright: Atdhe MullaZwölf Tage lang postierten sich die Protestierenden jeden Morgen vor dem Rektorat, abends räumten sie auf und gingen nach Hause (Foto: Atdhe Mulla)
Copyright: Atdhe MullaDie Studenten warfen Farbbeutel, die Polizei antwortete mit Pfefferspray (Foto: Atdhe Mulla)
Copyright: Atdhe MullaDer Rektor muss gehen, forderten die Protestierenden, aber auch, dass sich Politiker aus der Personalpolitik der Universität heraushalten (Foto: Atdhe Mulla)

Liridonë Demaj sagt von sich, kein politischer Mensch zu sein. Sie ist 21 Jahre alt, mehr Mädchen als Frau, hat lange aschblonde Haare und dunkle Augenringe. Sie verbringt viel Zeit mit ihren Lehrbüchern. Eigentlich. Seit einiger Zeit lenken sie ihre Gedanken immer häufiger davon ab: Warum übernehmen die Professoren an der Universität zwar lukrative Posten, nicht aber die dazugehörige Verantwortung? Warum geben manche gegen Geld bessere Noten, warum erscheinen andere nicht zu ihren eigenen Lehrveranstaltungen? Als sich am 28. Januar die ersten Protestierenden vor der Universität versammelten, demonstrierte Demaj zum ersten Mal in ihrem Leben. "Können das nicht die anderen machen?", hatte ihre Mutter zuvor am Telefon gefragt.

Die Proteste richteten sich gegen den Rektor der Universität, Ibrahim Gashi. Anfangs waren es einige Dutzend Studenten, die ihm vorwarfen, seinen Professorentitel zu Unrecht zu tragen. Mit jedem Tag bekamen sie mehr Unterstützung von unzufriedenen Bürgern. Zwölf Tage lang trafen sich jeden Morgen Tausende auf dem Campus. Abends räumten sie auf und gingen nach Hause. Ibrahim Gashi hatte Fachaufsätze in einem indischen Wissenschaftsjournal veröffentlicht und als Nachweis für seine Forschungstätigkeit angegeben – mit solchen Veröffentlichungen kann sich ein Wissenschaftler um einen Professorentitel bewerben. Üblicherweise werden solche Fachaufsätze von mehreren unabhängigen Wissenschaftlern überprüft, bevor ein Verlag sie veröffentlicht. Bei dem indischen Journal soll eine Überweisung von 80 Euro gereicht haben.

Spanische Telenovelas gucken, auf Job hoffen

Debatten um akademische Titel hat es auch in Deutschland gegeben. Die Minister Annette Schavan und Karl-Theodor zu Guttenberg etwa verloren Amt und Doktorwürden. Größere Demonstrationen hatte es in beiden Fällen nicht gegeben. Im Kosovo setzte das Parlament die Proteste auf die Tagesordnung. Schließlich schaltete sich der Premierminister ein und forderte den Rektor auf, die Universität wieder unter Kontrolle zu bringen. Der behauptete, radikale Aktivisten wollten Blut vergießen, rief die Polizei – und trat zurück. Es ging an diesen Tagen im Winter um mehr, als ein paar Aufsätze in einem indischen Journal. Es ging um die Zukunft der Jugend.

92% der Schüler möchten später studieren
Quelle: FES

Liridonë Demaj bestellt sich ein zweites Mineralwasser, ich mir einen Kaffee. Demaj besteht darauf zu zahlen. 3,50 Euro, viel Geld für sie. Manchmal fehlen ihr acht Euro für den Bus, um nach Hause zu ihrer Familie ins 80 Kilometer entfernte Dorf zu fahren. Nach ihrem Universitätsabschluss will Demaj einen Job als Übersetzerin finden, deshalb studiert sie Englisch, schaut spanische Telenovelas, lernt Französisch und etwas Deutsch. Sie wäre dann die einzige in ihrer Familie, die nicht mehr auf das Geld angewiesen ist, das ihr Onkel aus Deutschland schickt. Ihre Chancen stehen nicht gut: Die Jugendarbeitslosigkeit ist im Kosovo noch höher als in Griechenland oder Spanien.

Demaj erzählt mir von Freunden, die ihren Abschluss absichtlich hinauszögern. Jahrelang hatten sich die ausländischen Wiederaufbauhelfer bemüht, möglichst vielen Jugendlichen ein Studium zu ermöglichen. Allein an der Universität Pristina lernen heute 50.000. Die Hörsäle sind überfüllt, und draußen wartet niemand auf akademischen Nachwuchs.

Ich will den ehemaligen Rektor Ibrahim Gashi treffen und gehe in eine seiner Vorlesungen, die er seit seinem Rücktritt wieder hält. Als er den Raum betritt, springt einer der Studenten auf, greift nach der Holzleiste, die in einer Ecke steht und versucht auf Zehenspitzen, den Einschaltknopf des Beamers an der Decke zu erreichen. Gashi öffnet eine Power-Point-Präsentation. Er redet über Israel und Palästina, manchmal übersetzt er, was auf Englisch auf den Folien steht. Nur eine lässt er weg. Die erste. Denn statt „University of Prishtina“ hätte dort „Akins Highschool“ gestanden, der Name einer texanischen Schule. Gashi hat die Präsentation nicht selbst entworfen, sondern irgendwo im Internet gefunden.

Gashi glaubt, ein zu guter Rektor gewesen zu sein

Später sitzen wir in seinem winzigen Büro. Gashi klemmt sich auf seinen Stuhl, zwischen Fenster und Schreibtisch. Ich mich zwischen Schreibtisch und Tür. Es ist kalt. Ein Computer steht auf dem Tisch, ein paar Bücher im Regal. Kein Papier, kein Stift, kein Telefon. „Es gibt Kreise, die die Veränderungen nicht wollten, mit denen ich begonnen hatte“, sagt Gashi. Er trägt einen gut sitzenden Anzug, Krawatte und Manschettenknöpfe. Und spricht mehr wie der Politiker, der er vor einigen Jahren war, weniger wie der Geschichtsprofessor, der er seit wenigen Wochen wieder ist.

61% würden ein Studium im Ausland vorziehen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten

Er zählt seine Verdienste als Rektor auf: WLAN eingeführt, zusätzliches Personal eingestellt, das Verwaltungssystem modernisiert. Gashi glaubt, ein so guter Rektor gewesen zu sein, dass viele ihn loswerden wollten.

Herr Gashi, haben Sie für einen Professorentitel betrogen?

„Ich habe den Artikel nicht eingeschickt, ich habe nichts dafür bezahlt, ich war nur Co-Autor.“ Gashi sagt, dass ein seriöser Aufsatz in diesem Journal nicht hätte erscheinen dürfen. Er verschweigt, dass ihm der Fehler mehrmals unterlief, dass er über Mineralien, die Europäische Union und Privatisierungsstrategien schrieb statt über sein Fachgebiet Geschichte. Er verteidigt sich damit, dass er jeweils nur ein paar Zeilen dazu geliefert haben will. Keine gute Rechtfertigung für jemanden, der seinen Professorentitel mit diesen Veröffentlichungen begründet.

links: Der ehemalige Universitätsrektor Ibrahim Gashi,
rechts: Der Mathematiker Qëndrim Gashi (Fotos: Uli Reinhardt)
Die Studentin Liridonë Demaj (Foto: Christina Schmidt)

Ibrahim Gashi gehört zu jener Generation, die gerade anfing, sich ein eigenes Leben aufzubauen, als das Land im Konflikt zwischen Serben und Albanern unterging. Anfang der neunziger Jahre, Gashi arbeitete bereits als Wissenschaftler, verbat die serbische Regierung albanischen Universitätsmitarbeitern ihre Arbeit – so berichten es die Betroffenen. Über Jahre hinweg unterrichteten sie die albanischen Studenten geheim in ihren Privatwohnungen. Dann kam der Krieg, und Gashi ging ins Exil. Er promovierte in Graz und kehrte zurück, als die Universität wieder zu funktionieren begann. Gashi wurde Leiter des „Zentrums für Qualität in der Lehre“, Dekan seiner Fakultät und bald Mitglied der Hochschulleitung. Später wechselte er in die Politik, wurde stellvertretender Außenminister. 2012 zog er ins Rektorat ein.

Bibliotheksdirektoren und Theaterleiter dürfen nur noch Professoren sein

Ich erzähle Gashi von meinen Gesprächen mit Studenten. Wie schnell das Wort „Korruption“ fiel, wenn es um Professoren und ihre Arbeit ging. Er stimmt zu. „Korruption ist ein Synonym für alles in diesem Land, auch eine Universität ist dagegen nicht immun.“ Er erzählt ein Beispiel, warum Professoren keine Zeit für Studenten, erst recht nicht für Forschung finden: weil sie häufig noch einen weiteren Job übernehmen, um mehr zu verdienen. Anders als die Studenten hält Gashi das Problem allerdings für so gut wie beseitigt. Dank eines neuen Gesetzes, dass Zweitjobs in anderen Branchen verbietet. Bibliotheksdirektoren, Theaterleiter, der Chef des meteorologischen Instituts, sie alle seien jetzt nur noch Professoren. Was er nicht sagt: Manche von ihnen dafür gleich an mehreren Einrichtungen.

55% möchten unbedingt oder möglicherweise auswandern

Nach dem Krieg sind eine Vielzahl kleinerer Universitäten und privater Colleges entstanden, ihre Leiter haben die wenigen verfügbaren Dozenten angeworben, auch bei ihnen zu unterrichten. Gashi sagt, das Gehalt eines Professors an der Universität in Pristina reiche eigentlich. Zu verlockend aber sei für viele die Aussicht, noch mehr zu verdienen.

Gashi lädt mich ein, ihn in Prizren zu treffen, in der dortigen Universität, eine Autostunde von Pristina entfernt.

Dort lehren Sie auch, Herr Gashi?

„Das Gesetz erlaubt mir einen zusätzlichen Nebenjob, ich habe das Recht, woanders zu arbeiten“, antwortet er.

An der Universität in Pristina arbeitet einer, der wie der ehemalige Rektor heißt, aber der bessere Mensch sein will. Er war der Erste, der öffentlich und immer wieder den Rücktritt des Rektors forderte.

68% glauben, dass Noten oder Prüfungen in ihrer Schule oder Universität manchmal oder häufig gekauft werden

Qëndrim Gashi ist Mathematiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter und 29 Jahre alt. Nach seinem Bachelorabschluss in Pristina hat Gashi in Cambridge, Chicago und Bonn studiert. Als der Rektor Ibrahim Gashi zu studieren begann, lernte er gerade laufen. Für sein Alter ist er bereits weit in der Wissenschaftshierarchie aufgestiegen, ihm fehlt nicht mehr viel für einen Professorentitel. Trotzdem sieht er die Zukunft seiner Generation von der Garde der etablierten Professoren blockiert. „Wie soll sich unser Land entwickeln, wenn der intellektuelle Nachwuchs schon in der Universität lernt, dass niemand Verantwortung übernimmt?“ Geld, Macht, Privilegien, auch Qëndrim Gashi kennt die Verlockungen. „Sogar für die Ehrlichen ist es schwierig, nicht unehrlich zu handeln.“

Die Protestierenden flüchten vor einer Rauchgaswolke (Foto: Atdhe Mulla)

Die akademische Elite ist so eng mit der politischen vernetzt, dass die Universität zu einem Ort geworden ist, an dem es um Titel geht, nicht um Inhalte. Viele der Professoren haben kein Interesse, etwas daran zu ändern. Zu bequem sind ihre Posten. Sie sind ausgemusterte Politiker und froh, am Ende ihrer Karriere einen lukrativen Job abbekommen zu haben. Und dieser Ethos färbt langsam auch auf die kommende Akademikergeneration ab.

Gashi will mir den Ort zeigen, wo der Protest begann. In einer Nebenstraße hält er an. „Hier hat mich ein Polizist angesprochen, ob ich die Studenten vor dem Rektorat nicht stoppen könne.“ Nein, habe er gesagt, das sei nicht sein Protest. „Ich kann nichts machen.“ Ein paar rote Farbspritzer sind das einzige, was hier noch an den Protest erinnert.

50% glauben, dass persönliche oder politische Beziehungen wichtig sind, um einen Job zu finden

Mehr nicht? Nur ein Bruchteil aller Studenten hatte protestiert. In meinen Gesprächen höre ich viel Kritik an den Demonstrationen. „Sie waren falsch, zu politisch. Die Aktivisten haben sich benutzen lassen“, sagt mir ein Student. Ein anderer verteidigt den Rektor: „Für Kosovaren ist es zu schwer, in renommierten Journalen zu veröffentlichen.“ Wieder eine andere: „Das Problem ist doch ein Strukturelles, mit dem Rücktritt hat sich nichts verändert.“

Ins Rektorat ist inzwischen ein anderer nachgerückt. Außer Gashi und ein paar engen Mitarbeitern ist niemand zurückgetreten. Seinen Professorentitel trägt Gashi weiter.

Liridonë Demaj sitzt im Büro der Studentenorganisation, die im Januar die Demonstrationen initiierten. Die ehemaligen Protestierenden sitzen um einen Tisch herum und diskutieren. Nur geht es nicht um Proteste, sondern darum, welchen Film sie in einem der Wohnheime zeigen wollen. An den Wänden hängen Fotos von Jugendprotesten aus anderen Ländern. Sie zeigen erhobene Fäuste und aufgerissene Münder, die Parolen schreien. Die Bilder wirken, als wollten sich die Protestierenden daran erinnern, welche Macht sie für ein paar Tage hatten. Wie es war, als sich alles um sie drehte. Um ihre Zukunft.


Die Kosovaren, die Christina Schmidt kennenlernte, hatten ein großes Talent darin, die gemeinsame Rechnung im Café immer schon unauffällig zu bezahlen. Fünf Tage brauchte die Autorin, bis sie doch einmal schneller war. Dann kam einer und lud sie im strömenden Regen auf einen Schirm ein. Das konnte sie nicht mehr aufholen.


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