Heiraten auf Albanisch

Die Show ihres Lebens

Der Kosovo ist das zweitärmste Land Europas, die Wirtschaft liegt brach. Nur die Hochzeitsindustrie blüht: Für das rauschende Fest ihrer Kinder verschulden sich die Eltern oft auf Jahrzehnte. Zu Gast bei der Hochzeit von Fllavie und Kushtrim – zwischen Tradition und Moderne. Von Katharina Müller-Güldemeister

Die Frau ist ein Schlauch, in dem die Ware transportiert wird“, sagt der Kanun – das archaische Gewohnheitsrecht der Albaner. Die Frau wird geboren, um Kinder zu kriegen. Noch vor einer Generation folgten die Kosovaren diesen mündlich überlieferten Gesetzen. Danach diente die Ehe außerdem dazu, nützliche Familienbande zu knüpfen. Die Wahl des Ehepartners regelten die Väter. Braut und Bräutigam sahen sich erst am Hochzeitstag.

Fllavie war 17 Jahre alt, als sie den Mann kennen lernte, den sie nun in drei Tagen heiraten wird. Das war allerdings schon vor vier Jahren. Sie ging aufs Gymnasium in Suhareka, einer Kleinstadt im Süden des Kosovo. Kushtrim war 27. Er hatte sein Wirtschaftsstudium abgebrochen, weil er Geld verdienen musste und gerade den Exit Club am Busbahnhof eröffnet – eine verrauchte Café-Bar, in dem die Jugend des Provinzstädtchens tagsüber Tee und abends Bier trinkt. Dort sah sie ihn zum ersten Mal. Sie habe sich sofort in ihn verliebt, sagt Fllavie. Fragt man Kushtrim, läuft er rot an.

Copyright: Katharina Müller-GüldemeisterZu jedem Kleid die passenden Highheels (Foto: Katharina Müller-Güldemeister)
Copyright: Katharina Müller-GüldemeisterFllavie inmitten ihrer Kleider: Am Brauttag wird sie sich sechs mal umziehen (Foto: Katharina Müller-Güldemeister)

Ein halbes Jahr später bat er sie, ihn zu heiraten. Sie sagte: Ja. Die Zeiten der klassisch arrangierten Ehen sind seit dem Krieg auch im Kosovo endgültig vorbei. Nur auf dem Land läuft die Partnerwahl häufig noch über Familienmitglieder oder Heiratsvermittler. Dem Mädchen werden mehrere Vorschläge gemacht, die sie aber auch ablehnen kann.

Studenten suchen sich ihren Partner hingegen meist selbst. Eltern mischen sich nur ein, wenn sie mit der Wahl nicht einverstanden sind. Fllavies Eltern sind mehr als einverstanden – ihr Schwiegersohn in spe ist ein Gentleman und besitzt eine gutgehende Café-Bar mit 14 Angestellten. Kushtrim muss niemanden fragen: Seine Eltern wurden 1998 von Serben getötet. Er wuchs bei seiner Tante auf. Er erzählt das beiläufig.

Seit zwei Jahren lebt das Paar in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, die es gemeinsam ausgesucht und gekauft hat. Es sei heute nicht mehr ungewöhnlich, dass nicht-verheiratete Paare zusammenziehen, sagt Fllavie – der Kosovo sei modern. Doch selbst in der Hauptstadt Pristina gibt es strenge Vorstellungen davon, welche Art Beziehung moralisch ist und welche nicht. Studentenwohnheime sind nach Geschlechtern getrennt – Studentinnen, die im falschen Wohnblock gesehen werden, haben ihren Ruf als Schlampe weg.

Fllavie rückt ihre sechs Kleider zurecht. Sie hängen am Wandschrank im Schlafzimmer ihrer Eltern: ein weißes Hochzeitskleid und fünf Abendkleider in Lachsrot, Rosa, Rot, Anthrazit und Schwarz. Auf dem Bett liegen Schmuck aus Gold und falschen Diamanten, zwei traditionelle weiße Pluderhosen und goldbestickte Westen, davor sechs Paar Highheels, eines davon mit schwarzem Lack und großen roten Schleifen. Fllavie ist ein Mädchen mit glatten braunen Haaren, Grübchen und einem Lächeln, das immer ein bisschen verlegen wirkt. Noch erscheint sie bescheiden und zurückhaltend, kaum vorstellbar, dass sie am kommenden Samstag bei der Brautparty als Diva in Stöckelschuhen das Parkett betritt.

Alles bezahlt der Bräutigam

„Das ist alles für mich“, sagt sie. Alles ist für den Brauttag und den folgenden Hochzeitstag bestimmt. Die Brautgeschenke machen oft die Hälfte der Kosten einer kosovarischen Heirat aus. Bis auf eine Kette und ein Paar Ohrringe aus Gold, ein Erbstück ihrer Mutter, hat alles der Bräutigam bezahlt. Auch die Hochzeitsfeier und die neue Schlafzimmereinrichtung zahlt Kushtrim, die Familie der Braut richtet die Brautparty aus. Alles zusammen kostet zwischen 10.000 und 20.000 Euro. Bei dem kosovarischen Durchschnittseinkommen von 364 Euro verschulden sich die Familien oft auf Jahrzehnte. „Das ist unsere Tradition“, sagt Fllavie.

Früher besaß die Braut nur das, was der Bräutigam ihr vor der Hochzeit geschenkt hatte. Sie verdiente kein Geld und hatte sich nach der Hochzeit um Kinder, Schwiegereltern und Haushalt zu kümmern. Mädchen durften keine höhere Schule besuchen, weil dort die Gelegenheit bestand, mit Jungs anzubandeln und so das Ansehen der Familie zu gefährden. Außerdem nutzte es den Eltern nichts, wenn ihre Töchter gebildet waren, schließlich zogen sie nach der Hochzeit zu einer anderen Familie. Selbst wenn eine Frau heute ihr eigenes Geld verdient, wird sie von der Familie des Bräutigams mit Kleidern und Schmuck überhäuft.

Copyright: Katharina Müller-GüldemeisterDas Elternhaus (Foto: Katharina Müller-Güldemeister)
Copyright: Katharina Müller-GüldemeisterFllavie spielt die Rolle der traurigen Braut – traditionell zog diese nach der Heirat zur Familie des Bräutigams (Foto: Katharina Müller-Güldemeister)
Copyright: Katharina Müller-GüldemeisterAbschied aus dem Elternhaus: Fllavies Bruder und Mutter führen die Braut zum Bräutigam, ihre kleine Schwester trägt die Schleppem (Foto: Katharina Müller-Güldemeister)

Fllavie studiert Pädagogik und Wirtschaft in Prizren, zwanzig Kilometer von Suhareka entfernt. Sie will Kindergärtnerin werden und wird sich ihre Kleidung einmal vom selbst verdienten Geld kaufen – wenn sie nicht vorher Kinder bekommt. Das Zimmer fürs Baby ist schon eingerichtet. An der Tür hängt ein Bild: Prinz und Prinzessin, Hand in Hand, die sich verträumt in die Augen schauen.

Von wegen nur Frauen

Kushtrim wird die Kleider, die er Fllavie geschenkt hat, am Brauttag nicht sehen. Er ist nicht eingeladen. „Keine Männer, nur Frauen – das ist meine Party“, sagt Fllavie. Traditionell präsentierte die Braut am Tag vor der Hochzeit ihren Freundinnen und Verwandten die prächtigen Kleider und den Schmuck, tanzte bis zum Abend und weinte sich anschließend mit ihren Schwestern in den Schlaf. Ihr altes Leben ging zu Ende.

Auch für Fllavie wird ein neues Leben beginnen, doch das alte muss sie nicht aufgeben. Ihr Elternhaus und die gemeinsame Wohnung mit Kushtrim liegen nur ein paar Straßen auseinander.

Brautparty im Hotel Lijon: Fllavie und ihre Freundinnen stehen am Tag vor der Hochzeit herausgeputzt und aufgereiht am Eingang des Festsaals und schütteln jedem neuen Gast die Hand. Sie trägt Tracht mit weißen Pluderhosen und goldbestickter Weste. Ihre frisch gelockten Haare sind zu einer Hochsteckfrisur aufgetürmt.

Doch von wegen nur Frauen: Auch ihre acht Vettern sind zur Brautparty gekommen, zwei Kameramänner filmen die Tänze. Solange alles nach Plan verläuft, lächeln ihre Cousins freundlich hinter den Fotoapparaten hervor. Doch sie haben ihre eigenen Vorstellungen vom Brauttag ihrer Cousine – Fremde kommen darin nicht vor, auch wenn sie von der Braut eingeladen wurden. Fllavie spielt auf ihrer Party zwar die Hauptrolle, Regie aber führen die Vettern, und die wollen, dass die Journalistin nach einer halbe Stunde geht.

Trauernde Braut

Am nächsten Mittag hört man schon von Weitem die dumpfen Töne der Lodra-Trommeln und das Schnarren der Schalmei. Der Hochzeitskorso aus rund vierzig Autos verstopft die Straße. Mehr als hundert Verwandte von Kushtrim sind zum Haus der Braut gefahren, um sie von ihren Eltern abzuholen.

Der Kanun

Der Kanun ist das ursprünglich nur mündlich übertragene albanische Gewohnheitsrecht. Dieses regelte über Jahrhunderte das Zusammenleben in abgelegenen Berggebieten Albaniens und des Kosovo. Der Kanun hatte Vorrang vor staatlichen oder religiösen Rechtssystemen. Im Kosovo florierte dieses Konkurrenzrecht insbesondere während der Osmanischen Zeit (15. bis Anfang 20. Jahrhundert), später aber auch unter serbischer Herrschaft. Experten wie der kanadische Albanienforscher Robert Elsie mutmaßen, der Kanun könnte im kosovarischen Hochland auch heute neu aufflammen als Konkurrenzrecht zu dem der internationalen Truppen.

Der Kanun regelt die wesentlichen Aspekte des Sozialverhaltens. Wesentlicher Bestandteil ist die Ehre des Mannes. Bekannt ist er wegen seiner verstaubten archaischen und patriarchalischen Werte. So werden schwere Verletzungen des Rechts „mit Blut gerächt“. Solche Blutschulden werden innerhalb der Familie vererbt, was in der Vergangenheit immer wieder zu blutigen Fehden über Generationen ausartete.

Unbekannter ist das ebenfalls im Kanun enthaltene Gastrecht. Als Gäste werden Freunde und Schutzsuchende gleichermaßen verstanden. Sie werden mit größtmöglichem Aufwand bewirtet und beschützt. Erst wenn der Gast über die Dorfgrenze gebracht wurde und dem Gastgeber den Rücken zugekehrt hat – so heißt es im Kanun – endet die Pflicht zur Gastfreundschaft für den Albaner.

Vom Kanun existieren diverse regionale Varianten. Die bekannteste ist der Kanun des Lekë Dukagjini, auf die sich dieser Text bezieht. Über die Person Lekë Dukagjini (1410-1481), nach dem der Kanun benannt ist, ist wenig bekannt. Er soll ein Weggefährte des albanischen Nationalhelden Skanderbegs gewesen sein.

Mit der Abholung der Braut lösten die Familien ihr gegenseitiges Versprechen ein. Braut und Bräutigam gaben sich kein Ja-Wort. Das hatten ihre Väter schon für sie getan. Der Staat spielte in Familienangelegenheiten keine wichtige Rolle. Selbst zu Zeiten von Titos Jugoslawien war der Kanun in vielen Gegenden noch das stärkere Gesetz.

Ein großer roter Teppich in Fllavies Garten wird zur Tanzfläche. Die Frauen aus der Familie des Bräutigams fassen sich an den Händen und tanzen zu Schellentamburin drei Schritte nach rechts und einen zurück. Fllavie wird am Arm ihres Bruders aus dem Haus geführt. Sie trägt jetzt ihr perlenbesetztes Brautkleid, weiße Handschuhe und ein Diadem. Ihre Augen sind niedergeschlagen, kein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Auch die fünf Brautjungfern in knappen knallroten Samtkleidern lachen nicht. Selbst als Kushtrim seine Angetraute zum neu angeschafften Audi Q7 führt, bleibt Fllavies Blick gesenkt – aus Tradition. Sie spielt die Rolle der traurigen Braut, die ihre Familie verlassen muss. Und sie spielt sie gut.

Der Weg aus Deutschland ist zu weit für nur eine Hochzeit

Hinter ihnen klatschen, tanzen und singen Kushtrims Verwandte. Seine ältere Schwester Ardiana zieht ihre Highheels aus und schlägt mit einem Absatz auf das Schellentamburin. Beim ersten Schlag zerreißt das Fell, doch sie schlägt immer weiter. Die Schellen scheppern noch, als das Brautpaar ins blumengeschmückte Auto steigt. Fllavies Mutter und ihre beiden Schwestern weinen.

Auch alle anderen steigen in die Autos und machen sich auf den Weg zur großen Feier im Hotel Lijon. Ardiana kurbelt das Fenster runter und dreht die Musik auf. Aus den Lautsprechern klagt eine schnulzigschöne Balkanballade. Auf der Hauptstraße schwingen sich Ardiana und ihre beiden Cousinen aus dem Fenster in den Fahrtwind und kreischen und singen vergnügt. Bis ein Polizist sie mit Handzeichen ins Auto zurückscheucht.

Die Hochzeit von Fllavie und Kushtrim

Hinter ihnen fährt ein weißes SUV. Es hebt sich ab von all den Mittel- und Kleinwagen der anderen Gäste. Der Geländewagen gehört Kushtrims Großonkel, der mit seiner Frau und zwei Töchtern aus der Schweiz angereist ist. Eingeladen waren noch mehr Familien aus der Diaspora. Sie sind gern gesehene Gäste – auch weil ihre Hochzeitsgeschenke meist größer ausfallen. Doch der Weg aus Deutschland und der Schweiz ist weit für nur eine Hochzeit. Deswegen finden die meisten zwischen Mai und September statt, wenn die Verwandtschaft zum Sommerurlaub in die alte Heimat zurückkehrt. Allerdings sind die Festsäle früh ausgebucht und manche Gäste müssten auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Kushtrim und Fllavie haben sich für den April entschieden.

Jedes fünfte Geschäft ist auf Hochzeitskleider spezialisiert

Während Kushtrims Tanten das Fest mit einem Tanz eröffnen, verschwindet Ardiana, um das schwarze Minikleid gegen ein schwarz-rotes auszutauschen. Die Damentoilette im Hotel Lijon gleicht einer Umkleidekabine. Alle zehn Minuten wechselt eine andere ihr schwarzes gegen ein grünes, ihr rotes gegen ein gelbes Kleid. Kein Wunder, dass in Suhareka jeder fünfte Laden auf Hochzeitskleider spezialisiert ist. Die Kleider kommen nicht von der Stange. Sie werden von Schneiderin und Kundin gemeinsam entworfen und vor Ort genäht. 

Die Braut kann wieder lachen (Foto: Katharina Müller-Güldemeister)

Ardiana streift ihre Highheels ab und hüpft in Feinstrumpfhosen auf die Tanzfläche. Doch dann wird die Musik plötzlich ruhiger, und ein Sänger greift zum Mikrofon. Alle schauen auf die Empore, von der zwei Treppen hinabführen. Zwei Türen öffnen sich, Braut und Bräutigam treten heraus. Vor einem Landschaftsbild mit blauem See, blauem Himmel und rosa Wolken stehen sie Hand in Hand und lächeln verkrampft. Sie steigen die geschwungenen Treppen herunter, sie rechts, er links, schauen sich abwechselnd in die Augen und ins Blitzlicht der Kameras. Als sie sich unten treffen schweben Luftballons von der Decke – kein Bollywood-Regisseur hätte die Szene besser inszenieren können. Sie steht sinnbildlich für die Ankunft der Braut in ihrem neuen Zuhause. Gäste stecken dem Bräutigam Fünfzig- und Hundert-Euroscheine in die Brusttasche, der Braut ins Diadem. Dann schreiten Kushtrim und Fllavie zur Hochzeitstafel und wirken wie Zuschauer auf dem Fest ihres Lebens.

Die Gäste haben sich zu einer hundert Meter langen Polonaise formiert: Kushtrims Freunde und Mitarbeiter aus seinem Café, Frauen mit Hochsteckfrisuren oder mit Lockenstab-Locken, in Minikleidern oder Abendgarderobe, Männer in Anzug und Krawatte oder auch Jeans und Turnschuhen. Zu diesen Rhythmen haben sie oft getanzt, die Älteren unter ihnen schon, als an Hochzeiten ausschließlich Trachten getragen wurden – und die Frau noch ein Schlauch war.


Eigentlich wollte Katharina Müller-Güldemeister mehr über den jahrhundertealten Kanun erfahren, stieß dann aber mit der jüngsten Geschichte des Kosovo zusammen. Beim Interview in einer Bar wurde sie von einem betrunkenen Schrank angepöbelt. Wie sie von einem Polizisten erfuhr, hielt der ehemalige Befreiungskämpfer sie für eine Spionin.


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