Unterwegs in Dragash

Eingewandert

Verlassen Sie die markierten Wege nicht, warnen Reiseveranstalter für den Kosovo. Pech für die Menschen in der Bergregion Dragash, die auf Wanderer und Skifahrer warten. Ich ignorierte die Warnungen, packte Cervelats und Toblerone in meinen Rucksack und lief los. Von Andres Eberhard

Man hatte mich gewarnt: Wandern in den Bergen des Kosovo ist gefährlich – aus zwei Gründen. Eine Gefahr kenne ich aus den Schweizer Alpen: Aggressive Hunde, die kampfbereiten Bodyguards der Schafe.

Auf sie konnte ich mich vorbereiten. Ein Kollege empfahl einen Pfefferspray, ein anderer riet zu Steinen vom Straßenrand. Meine Freundin sagte: „Pack Cervelats ein.“ Das klang unaufwändig und günstig. Ich zahlte 4 Franken 90 für ein Multipack der Schweizer Brühwurst und fühlte mich sicher.

Die andere Gefahr schien bedrohlicher: Landminen aus dem Krieg. Das Auswärtige Amt schreibt: „Kosovo ist weitgehend minenfrei.“ Ich verstand das als gute Nachricht und ahnte nicht, wie groß der Abgrund ist, der hinter dem dahingeschmissenen, dreisilbigen Zusatz „weitgehend“ klafft.

Abgesehen davon soll die Region Dragash im südlichsten Zipfel des Kosovo ein unentdecktes Wanderparadies sein. Das verspricht ein von der Uno finanzierter Wanderführer, der „Kosovo Hiking and Nature Tourism Guide“.

„Falsche Frau geht nicht“

Gursel Imeri aus Zaplluxhe ist Busfahrer und ein hervorragender Gastgeber.

Ich starte in Prizren, der zweitgrößten Stadt des Kosovo und gleichzeitig Portal zum Hochland im Süden, den Sharr-Planina-Bergen. Von hier aus will ich einen Bus nach Dragash nehmen, in den gleichnamigen Hauptort der Bergregion.

Copyright: Uli ReinhardtZu Hause bei der Familie Imeri in Zaplluxhe: Die Tochter bereitet türkischen Kaffee zu, daneben Mutter und Söhne (Foto: Uli Reinhardt)

Copyright: Andres EberhardGastfreundschaft ist bei Albanern Vorschrift: Zum Abendessen gab’s für den unangekündigten Gast ein Drei-Gänge-Menü (Foto: Andres Eberhard)

An der Busstation spricht mich ein Mann mit schütterem Haar und breitem Lachen an. „Turisti?“ Ich nicke und will schon meinen Albanisch-Kauderwelsch-Sprachführer hervorkramen, doch das ist nicht nötig. „Aus der Schweiz?“ Gursel Imeri, 38, wirkt nun richtig erfreut. Zu einem begeisterten Lachen breitet er die Arme weit aus, als ob er mich gleich umarmen möchte. Die Stimme erhöht er, wenn er Deutsch spricht, was kindlich und liebevoll klingt, dazu ein leicht österreichischer Akzent. „Wenn du willst, du kannst in meinem Haus bleiben, wir essen, und ich zeige dir mein wunderschönes Dorf.“

Wir setzen uns in die erste Sitzreihe des großen Reisebusses. Er zeigt auf seinem Handy Bilder von einem Urlaub in der Schweiz bei seiner Schwester, erzählt von seinem gestorbenen Vater und wie es ihn belastet, dass die Familie für seinen ältesten Sohn Gzim, sechzehneinhalb, bald eine Frau finden muss. „Falsche Frau geht nicht, weißt du. Das ist unsere Kultur.“

Gastfreundschaft ist Vorschrift

Das Hochland oberhalb von Prizren vereint zwei Welten unter einem Namen: Dragash. Weit oben in den Bergen, im Süden an der Grenze zu Mazedonien und Albanien, liegt Gora. Dort wohnen die Gorani, eine ethnische Minderheit. Etwas tiefer liegt die andere Welt: die Welt der Albaner. Sie heißt Opoja und erstreckt sich vom Ort Dragash über ein weites Hochplateau bis nach Zaplluxhe, dem Wohnort von Gursel.

Ich habe das Glück, dass Gastfreundschaft für Albaner wie Gursel Vorschrift ist. Die Ehre eines Mannes hängt davon ab. Im Kanun, dem alten Gewohnheitsrecht der Albaner, steht: „Das Haus gehört Gott und dem Gast.“ Und: „Für jeden Freund und Schutzsuchenden musst du den Arbeitstag verlieren bei eigenem Brot, solltest du selbst dabei verarmen.“

Freunde sind Gursel und ich schnell, denn noch im Bus schickt er mir eine Anfrage auf Facebook. Nach eineinhalb Stunden Fahrt erreichen wir Zaplluxhe. Gursel führt mich in ein zweistöckiges Haus, das er von seinem Vater geerbt hat. Seine 13-jährige Tochter Medine bereitet sofort türkischen Kaffee zu, während wir Männer uns aufs Sofa setzen und rauchen. Ich bin zwar Nichtraucher, aber ich passe mich den Gepflogenheiten an.

„Wie viele Kühe?“

Mit 18 hat er geheiratet, erzählt Gursel, lebte in den Neunzigern sieben Jahre lang in Österreich, musste dann zurück, hat nun vier Kinder und verdient als Busfahrer 300 Euro im Monat. „Zu wenig.“

In seinem Haus könnten Touristen wohnen, schlägt er vor, er würde im Sommer auch ein paar Monate als Hilfsarbeiter in die Schweiz kommen. Als ich ihm erzähle, dass Verwandte einen Bauernhof führen, fragt er sofort: „Wie viele Kühe?“ Smartphone, Facebook, ein Gastgeber mit österreichischem Akzent, der in die Schweiz mitkommen will. So hatte ich mir das nicht vorgestellt mit der Gastfreundschaft der Albaner.

Der Kanun

Der Kanun ist das ursprünglich nur mündlich überlieferte Gewohnheitsrecht der Albaner. Über Jahrhunderte regelte der Kanun das Zusammenleben in abgelegenen Berggebieten Albaniens und des Kosovo. Der Kanun hatte Vorrang vor staatlichen oder kirchlichen Rechtssystemen. Im Kosovo florierte dieses Konkurrenzrecht insbesondere während der Osmanischen Zeit (15. bis Anfang 20. Jahrhundert), später aber auch unter serbischer Herrschaft. Experten wie der kanadische Albanienforscher Robert Elsie mutmaßen, der Kanun könnte im kosovarischen Hochland auch heute neu aufflammen als Konkurrenzrecht zum Rechtssystem der internationalen Truppen.

Der Kanun regelt die wesentlichen Aspekte des sozialen Lebens. Besonders wichtig ist die Ehre des Mannes, die auf verstaubten archaischen und patriarchalischen Werten beruht. So werden schwere Verletzungen des Rechts „mit Blut gerächt“. Solche Blutschulden werden innerhalb der Familie vererbt, was immer wieder zu blutigen Fehden ausartete, die sich über Generationen zogen.

Weniger bekannt ist das ebenfalls im Kanun enthaltene Gastrecht. Als Gäste werden Freunde und Schutzsuchende gleichermaßen verstanden. Sie werden mit größtmöglichem Aufwand bewirtet und behütet. Erst wenn der Gast über die Dorfgrenze gebracht wurde und dem Gastgeber den Rücken zugekehrt hat – so heißt es im Kanun – endet die Pflicht zur Gastfreundschaft.

Vom Kanun existieren diverse regionale Varianten. Die bekannteste ist der Kanun des Lekë Dukagjini, auf die sich dieser Text bezieht. Über die Person Lekë Dukagjini (1410-1481) ist wenig bekannt. Er soll ein Weggefährte des albanischen Nationalhelden Skanderbegs gewesen sein.

Und doch, kann es mir besser gehen? Nur für mich hat Gursels Frau Nadije traditionelles Essen gekocht, Burek mit Reis und Hühnchen. Nur um mir die Kultur näher zu bringen, sitzen wir am knietiefen Tisch auf dem Boden und nicht auf Stühlen.

Zuverlässig aggressive Tiere

„Bist du müde?“, fragt Gursel fürsorglich. Ich nicke, aber bevor wir schlafen, zeigt er mir auf Youtube einen traditionellen Ölwrestling-Wettkampf in Dragash und das Solo eines bekannten Flötenspielers aus dem Nachbardorf. Zu Kuchen und türkischem Kaffee sehe ich mir auch noch an, wie einheimische Sharr-Hunde einen Wolf zerfleischen, um ihre Schafe zu schützen. Gursel will mit dem Video zeigen, dass die Tiere dieser Rasse besonders zuverlässig sind. Doch mir wird ganz bange, wenn ich an meine Wanderung am nächsten Tag denke.

Ich freue mich auf die Nacht, auf Ruhe und Zeit für mich alleine. Auf der langen, hufeisenförmigen Couch im Gästezimmer haben die Frauen zwei Betten hergerichtet. Eines für mich, eines für Gursel. Ich bin erstaunt, das merkt man mir offenbar an. „Is’ normal“, sagt mein Gastgeber. Er richtet den Heizkörper in meine Richtung. „So warm genug?“

Offenbar fühlt sich Gursel für meine Sicherheit verantwortlich. Im Kanun steht: „Während du den Freund geleitest, wird jede Schande, die ihm jemand antut, von dir gefordert.“

Elf Monate im Jahr arbeitslos

Am nächsten Morgen fährt mich Gursel mit seinem Bus nach Dragash, wo wir uns verabschieden. Bis Brod, einem Hotel mit eigenem Skigebiet, sind es zehn Kilometer.

Nach etwas über der Hälfte des Weges, nahe des Ortes Backe, setzt starker Regen ein. Ein Autofahrer hält 50 Meter vor mir, lehnt sich hinüber zur Beifahrerseite und öffnet wortlos die Tür. Ich setze mich in den alten Nissan. Im Auto läuft serbische Popmusik, mein Fahrer stellt sich als Serbe aus Brod vor. Tatsächlich ist er Gorani, doch wie viele Angehörige der Minderheit steckt er in einem Identitätskonflikt und bezeichnet sich anders. Denn Albaner mögen Gorani nicht, weil sie unter Milošević bevorteilt wurden. Den Serben wiederum sind sie suspekt, weil sie wie die Albaner Muslime sind.

Ilir Himaduna aus Prizren, 59, arbeitete jahrelang als Wanderführer. Er glaubt an das touristische Potenzial der Region Dragash.

Ich steige in Brod aus, einem von über 2000 Metern hohen Bergen umgebenen Dorf mit ein paar hundert Häusern und einer Moschee. Es dauert aber nicht lange, bis sich um mich eine Traube von Männern mit neugierigen Gesichtern bildet. Ihr Sprecher ist ein Mann namens Erden, der auf Italienisch auf mich einredet. Wie viele Gorani hat er Verwandte in Italien. Und ist arbeitslos. „Außer im August“, sagt er. Dann pflückt das ganze Dorf auf den umliegenden Wiesen Blaubeeren.

Die Wirtschaft im Kosovo ist marode. In Dragash, einem der ärmsten Gebiete des Landes, gibt es sie praktisch nicht. Viele Kosovaren leben von den Überweisungen von Verwandten aus dem Ausland. Der wichtigste Rohstoff im Kosovo ist die Braunkohle. In Brod sind es die Blaubeeren.

Copyright: Andres EberhardSelten: Schafherde ohne Wachhund (Foto: Andres Eberhard)

Copyright: Andres EberhardSanfte Wiesen, hohe Berge: südlich von Brod (Foto: Andres Eberhard)

In den Bergen müssen Sharplaninac-Hunde mit List ausmanövriert werden. Im Garten von Gursel Imeris Cousin sind sie ganz brav.

Braunkohle und Blaubeeren, beides steht nicht für den Aufschwung, den der Kosovo im Großen und Dragash im Kleinen so dringend braucht. Darum hat die UN einen „Action Plan 2013 – 2023“ entwickelt: 38 Maßnahmen, die Touristen anlocken sollen. Mülldeponien sollen entfernt, Museen gebaut und – was mich erstaunt – Menschen in Gastfreundschaft geschult werden.

Wie ein gut organisierter Militärtrupp

Erden bietet mir an, in seinem Haus, einer zerfallenen Ruine aus Stein, zu schlafen. Ich lehne ab, denn er ist aufdringlich geworden. Zuvor im Dorfladen hat er auf meine Kosten einen Blaubeersaft gekauft, und dann hat er in meinem Namen auch noch drei Freunde zum Kaffee eingeladen.

In Opoja, wo ich die Nacht verbrachte, ist Tourismus noch eine vage Vorstellung, hier in Brod haben die Menschen ein konkretes Vorbild. Drei Kilometer talaufwärts steht seit acht Jahren das Hotel Arxhena. Da will ich hin.

Lautes Hundegebell stoppt mich. Vier große Sharr-Hunde sprinten mir entgegen, ich weiche zurück und gehe ein paar Meter rückwärts. Ein Hund bleibt eineinhalb Meter vor mir stehen, knurrt unfreundlich, der Rest bleibt gestaffelt hinter ihm zurück wie ein gut organisierter Militärtrupp.

Ich denke nicht daran, meinen Rucksack zu öffnen und Cervelats hervorzukramen, ich will nur weg. Ich steige den Berg hinauf, der Front-Hund bleibt mir dicht auf den Fersen. Ich rutsche aus, was erstens meinen Verfolger aggressiv bellen lässt und zweitens Spähhund Nummer fünf weckt, der einige Meter unter mir im Gras geschlafen hat. Schweiß läuft mir über die Stirn, aber ich spüre vor Adrenalin die Anstrengung nicht. Auf rund 100 Meter Distanz lassen mich die Hunde passieren, ich sehe von weitem den Grund ihres Ärgers, eine Schafherde am Ufer des nahen Flusses.

Der Panzer bleibt stecken

Erschöpft erreiche ich das Hotel, einen Viersternepalast mit Sauna, Whirlpool und Fitnessraum, und nehme mir ein Zimmer für 30 Euro. Es ist der bislang erste Versuch in der Region, mit Tourismus Geld zu verdienen. Dabei gibt es weitere vielversprechende Angebote: Im Internet steht eine 22.000 Hektar große Fläche „fast unberührter Natur“ zum Verkauf, angepriesen als die „Kronjuwelen von Südosteuropa“. Preis: Verhandlungssache.

Am nächsten Morgen will ich mir das Skigebiet anschauen. Doch die Sessellifte, die das Hotel mit den Skiliften am Berg verbinden, werden erst nächsten Winter montiert, sagt die Managerin. Ungefragt wird extra für mich ein Pistenfahrzeug bereit gemacht, das aussieht wie ein Panzer. Es wäre unfreundlich, die Bergfahrt abzulehnen, also steige ich auf, und wir rattern los. Doch nach drei Kurven bleibt der Ratrac im Dreck stecken.

Ich gehe zu Fuß weiter. Auf Schafspfaden, sanften Wiesen und einem alten Fuhrweg wandere ich über den Berg Richtung Restelica, dem südlichsten Dorf des Kosovo eingeklemmt zwischen Mazedonien und Albanien.

Ich streife nun sorglos durch die Wiesen, verlangsame meinen Schritt erst, als ich Schafe blöken höre. Doch diesmal werde ich nicht unfreundlich weggeknurrt. Stattdessen werde ich schon wieder auf eine Übernachtung eingeladen: von einem jungen Schäfer. „Vuoi dormire da noi?“, fragt er, ob ich bei ihm schlafen wolle, im Stall bei den Schafen.

Die hinterste Ecke des Kosovos: das Dorf Restelica (Foto: Andres Eberhard)

Zuvor hatte ich schon seinen Bruder getroffen, doch der sprach nur Nasinski, den südslawischen Dialekt der Gorani. „Barbula“ hatte er stets gesagt, doch ich wusste nicht, wovon er sprach. Nun verstand ich. Barbula, ein Dorf, ein Schafstall und so etwas wie ein Bett für mich, 30 Minuten zu Fuß.

Nach Verständigungsproblemen telefoniert der Schäfer mit seinem Bruder...
Copyright: Andres Eberhard... der den Autor später einlud, im Schafstall zu übernachten (Foto: Andres Eberhard)

Toblerone mögen sie nicht

Erst steige ich hinab, um mir Restelica anzusehen. Von weitem höre ich einen Muezzin beten. Im Dorf treffe ich erst auf eine schlafende Kuh, und dann auf zwei Grenzpolizisten, die meinen Ausweis sehen wollen.

Ich bin in der hintersten Ecke Kosovos angekommen. Restelica ist von drei Seiten von Bergen umgeben, einzelne Häuser kleben an den Felsen. Der kleine Lebensmittelladen heißt Migros, wie die Schweizer Kette. Auf der Straße umkreisen mich einige Kinder misstrauisch. Ich biete von meiner Toblerone-Schokolade an, die ich als Gastgeschenk stangenweise in meinen Rucksack gepackt hatte. Doch die Kinder betrachten skeptisch die matterhornumhüllten Dreiecke in meiner Hand, halten Abstand und tuscheln. Ich mache mich auf nach Barbula.

Doch bald ist nur noch dichter Wald um mich, der Pfad wird immer schmaler, bis er teilweise ganz verschwindet. Nach einer Stunde Wandern ohne Orientierung fürchte ich, er löst sich ganz auf. Dann kommt sie, im Gruppetto mit dem Hunger, der Müdigkeit und dem Ziehen in meinem Rücken: die Angst vor der herannahenden Nacht, vor dem Alleinsein – und vor Landminen. Panisch verlasse ich den Weg Richtung Tal, wo ich die geteerte Straße vermute, steige über Steine, überquere umgestürzte Baumstämme und zwänge mich durch Büsche. Ob ich die Explosion wohl noch hören würde, bevor alles dunkel wird?

Anti-Personen-Minen

Während des Kosovokrieges wurden schätzungsweise eine Million Landminen (auch Anti-Personen-Minen genannt) verlegt. In den ersten sieben Jahren nach dem Krieg starben insgesamt 111 Menschen durch Landminen oder explosive Überreste, 422 wurden verletzt. Die Opfer waren hauptsächlich Landwirte oder Holzsammler bei der Arbeit. Viele der Verletzten verloren Arme oder Beine, erblindeten oder verloren ihr Hörvermögen.

In den letzten Jahren gab es aber kaum mehr Vorfälle. Heute gelten die meisten Gebiete im Kosovo als minenfrei. Die Räumung kostet allerdings viel Geld: Während die Herstellung einer Mine nur rund 2 Euro kostet, muss sie für bis zu 700 Euro pro Stück weggeräumt werden.

Auch wenn der letzte Todesfall durch eine Landmine im Kosovo Jahre zurück liegt, fehlt eine totale Sicherheit. Denn jede fünfte Mine ist nie kartiert worden. Deshalb warnen Behörden und Reiseveranstalter nach wie vor vor der Gefahr – mit dem Resultat, dass die Touristen fern bleiben.

Seit Ende der neunziger Jahre verbietet ein völkerrechtlicher Vertrag – die so genannte Ottawa-Konvention – den Unterzeichnerstaaten den Einsatz von Anti-Personen-Minen. Insgesamt 159 Staaten, darunter alle EU-Länder, haben den Vertrag ratifiziert. Die Bundeswehr hatte ihren Bestand im Wert von damals 1,7 Millionen D-Mark als eines der ersten Länder bereits vor der Ratifizierung 1998 vernichtet. Großmächte wie die USA, China, Russland oder Indien haben den Vertrag jedoch nicht ratifiziert.

Die Retter mit der Bierflasche

Meine Panik ist nicht rational begründet, seit Jahren ist im Kosovo niemand mehr durch eine Landmine gestorben. Die Angst ist subtil. Keine Behörde, kein Reiseveranstalter, kein Reisemagazin kann die Gefahr ganz ausschließen, denn viele Minen wurden nie kartiert. Starke Regenfälle wie im vergangenen Mai können sie wieder an die Oberfläche spülen.

Auf einem breiten Fuhrweg fühle ich mich sicher. Zwei Männer kommen mir entgegen, einer mit Bierflasche in der Hand.Wie ich waren sie heute wandern, erzählen sie ganz entspannt. Murat lebt in Siena, Elvis in Tirol. Beide sprechen Deutsch, sind junge Väter und für vier Wochen zu Besuch bei Verwandten. Für Barbula reicht die Zeit nicht mehr, sie nehmen mich zurück ins Dorf, die Bierflasche wirft Murat in den Wald.

In einem Café kommen wir ins Gespräch. Alkohol wird nicht getrunken. „Sehr religiös hier“, erklärt Elvis. Im Nachbardorf Krushevo ist das anders. „Darum waren wir wandern“, sagt Murat.

„Pay!“

Noch gibt es in Restelica keine Hotels, aber weil so viele Junge ins Ausland auswandern, sind viele Betten frei. Zum Beispiel bei Arif, einem alten Greis mit furchigem Gesicht, der am Nebentisch sitzt. Er spricht ein paar Brocken Deutsch, weil er zwei Jahre lang in Zürich an der Bahnhofstraße auf dem Bau gearbeitet hat.

Sein leer stehendes Steinhaus in einer Seitengasse nennt Arif „Hotel“. Ich weiß nicht, ob das nur ein Sprachproblem ist oder die Definition eines Arrangements, das mit einer Zahlung abgeschlossen wird.

Das Zimmer ist ungeheizt, dafür stehen gleich fünf Betten drin. „Pay!“, sagt Arif nun, etwas abrupt, dafür deutlich genug. Ich ziehe aus meiner Brieftasche einen 10-Euro-Schein.

Copyright: Andres Eberhard„Pay!“: Gastgeber Arif (Foto: Andres Eberhard)

Als mein Gastgeber weg ist, will ich noch einmal raus, etwas essen, mir das Dorf und die Gegend anschauen, doch Arif hat von außen zugesperrt. Zum Glück habe ich noch meine Cervelats.

Am nächsten Morgen warte ich, bis Arif kommt und aufschließt. Bis mein Bus fährt, ist noch Zeit. Wir setzen uns in ein Café im Dorfzentrum. Im Fernsehen läuft russischer Fußball, außer uns sind zwei weitere Männer da. Sie schweigen.

Arif und ich verständigen uns, so gut es geht. Die eine oder andere Frage verhallt unverstanden im Raum. Doch Arif versteht, als ich frage, ob viele Touristen nach Restelica kommen. Er hebt seinen Zeigefinger, und sagt: „Il primo“. Ich bin der erste in diesem Jahr.


Andres Eberhard plagte das schlechte Gewissen, als er sich von Gastgeber Gursel Imeri verabschiedete. „Was schulde ich dir für die Nacht?“, fragte er. Imeri, der mit 300 Euro pro Monat Frau, Mutter und vier Kinder durchbringt, antwortete: „Wie du willst.“ Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: „Ist okay.“ Und lachte, wie immer.