Nur mit einem Badetuch um die Hüften schlendert Kushtrim Mushica durch die Straßen Pristinas, wirft jungen Frauen, die ihn anstieren, verschmitzte Blicke zu. Er tänzelt in Klamottenläden hinein, wedelt dort mit seiner Kreditkarte und wirft sich allmählich in Schale. Schließlich steht er mit Anzug und roter Rose vor einer bildhübschen Frau, die beiden fahren auf seinem Motorroller zu ihm nach Hause.
Es ist nur ein Werbespot. Doch der Hauptdarsteller fühlt sich in der Rolle sichtlich wohl. Lässig, cool, erfolgreich. Mushica ist Torwart des FC Pristina und in seinem kleinen Land eine große Nummer. Im vergangenen Jahr Meister, Pokalsieger, Keeper des Jahres im Kosovo, Sportler des Jahres in Pristina. Mehr geht nicht. Mehr geht hier nicht. Aber Mushica will mehr. „Natürlich ist es mein Traum, in einer der großen europäischen Ligen zu spielen.“ Nur wie sollen die Clubs auf ihn aufmerksam werden? Auch sechs Jahre nachdem der Kosovo seine Unabhängigkeit erklärt hat, ist das Land isoliert. Und damit auch der Fußball. Der europäische Fußballverband UEFA verweigert dem Land bis heute die Aufnahme.
Als ich ihn im April 2014 treffe, hofft Mushica auf ein neues Kapitel in seinem Leben. Kosovo spielt in wenigen Wochen sein zweites Länderspiel gegen die Türkei. Mushica steht im Kader. Setzt ihn der Trainer wirklich ein, kann er sich von da an Nationaltorwart nennen. Auch wenn es nur ein Freundschaftsspiel ist, denn bei internationalen Wettkämpfen darf das junge Land weiterhin nicht mitspielen. Es ist Mushicas Chance. Das Spiel wird in viele Länder übertragen.
Als der Kosovo im März sein erstes Länderspiel gegen Haiti bestritt, war Mushica der einzige Spieler aus der heimischen Liga. Alle anderen haben Verträge im Ausland. Zum Einsatz kam er nicht. „Der Trainer hat mir noch am Morgen vor dem Spiel gesagt, dass ich im Tor stehe, leider hat er seine Meinung geändert.“ Mushica ärgerte sich, war aber auch stolz darauf, dass endlich eine kosovarische Nationalmannschaft das Land vertritt – und er ein Teil von ihr ist. Das Spiel in Mitrovica endete 0:0. „Es war ein historisches Ereignis. Alle Leute im Kosovo haben es gesehen, im Stadion oder vor dem Fernseher“, schwärmt Mushica. Wenn der 1,90 Meter große Sportler spricht, macht er ausladende Bewegungen mit den Armen. Die Finger spreizt er dabei, als fange er Fußbälle.
Der Traum von Europa
Mushica steht auf dem Rasen des leeren Pristina-Stadions und zeigt auf einen Hügel am Stadtrand. „Von dort oben konnten wir hier reinschauen“, sagt er, „es war für mich als Junge das, was die Allianz-Arena heute für mich ist.“ Das Ziel seiner Wünsche.
Dabei drängt sich der Vergleich zwischen der zerschlissenen Sportstätte im Zentrum Pristinas und dem Münchner Luxusstadion nicht gerade auf. Außen stapeln sich Müll und Glasflaschen unter den Tribünen, viele der Sitze sind zerbrochen, auf anderen liegen zentimeterhohe Schichten von Pistazienschalen, ein verrostetes Plumpsklo dient als Mannschaftstoilette. Es ist das Stadion des kosovarischen Rekordmeisters.
Mushicas Jugendtraum hat sich längst erfüllt, seit 2002 hütet er für den FC Pristina das Tor.
Jetzt träumt er von Europa. Mushica ist 29 Jahre alt, im besten Torwartalter, aber vielleicht zu alt, um noch den Sprung zu einem Topverein zu schaffen. Während er im Stadion steht und erzählt, läuft die Frauenmannschaft des FC Pristina auf den Rasen. Die Spielerinnen machen sich warm, Mushica winkt ihnen zu, sie winken kichernd und flüsternd zurück. Er lächelt verschmitzt wie in dem Werbespot. Der Modellathlet ist seit einem Jahr Single, gilt in Pristina als Frauenheld. Er selbst sagt: „Ich bin kein Casanova.“ Vor zwei Jahren schloss Mushica sein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Pristina ab. Er ist gläubig, betet vor jedem Spiel, aber nicht fünf Mal am Tag. „Ich bin ein Muslim light.“ Priorität in seinem Leben hatte ohnehin immer der Ball.
„Er ist ein Symbol für die Generation des Kosovo, die so viel gelitten hat, immer isoliert war“, sagt der Präsident des kosovarischen Fußballverbandes Fadil Vokrri über Mushica. „Für ihn wäre es besonders, gegen die Türkei auf dem Platz zu stehen.“ Der 54 Jahre alte Vokrri ist die Fußballlegende des Landes. Er hatte seine Karriere als Spieler in Pristina begonnen und zog von dort in die Fußballwelt hinaus: Partizan Belgrad, Fenerbahce Istanbul, Nîmes Olympique. Damals gehörte der Kosovo noch zu Jugoslawien. Für die heutige Fußballergeneration ist solch ein Aufstieg fast unmöglich. Wie die Nationalmannschaft dürfen auch die Vereine keine internationalen Wettkampfspiele bestreiten. Ausländische Spielerbeobachter machen einen Bogen um den Kosovo. Mushica sagt: „Die Tür ist für uns noch geschlossen.“ Die UEFA sperrt sich gegen eine Aufnahme des Verbandes, besteht darauf, dass der Kosovo zunächst Mitglied der Vereinten Nationen werden müsse. Das ist derzeit allerdings unrealistisch. Der UNO-Sicherheitsrat müsste die Aufnahme beantragen, zwei Drittel der Mitgliedsstaaten dafür stimmen. Vor allem Russland, ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat, weigert sich, den Kosovo anzuerkennen. Ohne UEFA-Mitgliedschaft sind für die Nationalmannschaft nur Freundschaftsspiele möglich, die Vereine dümpeln in einer unterfinanzierten Liga vor sich hin.
„Am falschen Ort zur falschen Zeit geboren“
In den achtziger Jahren erlebte der FC Pristina mit Kapitän Vokrri eine goldene Ära. Der einzige kosovarische Verein in der höchsten jugoslawischen Spielklasse besiegte 1983 sogar das Spitzenteam Roter Stern Belgrad. Als in den Neunzigern die albanische Bevölkerungsmehrheit von den Serben zunehmend unterdrückt wurde, erlebte auch der Fußball einen Abstieg. In der Arena von Pristina spielten nur noch Serben, die Albaner organisierten eine illegale Liga, kickten auf Plätzen, die mit „Kartoffelacker“ noch wohlwollend beschrieben sind.
Fadil Vokrri, 54, ist die Fußballlegende des Kosovo. Als einziger Kosovare lief der Stürmer für die Nationalmannschaft Jugoslawiens auf. Heute ist er Präsident des kosovarischen Fußballverbandes. Seine Mission: die UEFA-Mitgliedschaft des Kosovo.
MEHR >Mushica begann 1991 im Alter von sechs Jahren mit dem Fußballspielen, KF Ramiz Sadiku hieß sein erster Verein. Mushica fährt mit seinem VW Golf durch den dichten Verkehr der Hauptstadt auf den Hügel, wo alles begann. Vor einer langen, maroden Treppe, die ins Tal hinunterführt, hält er an. Wie Sylvester Stallone in „Rocky“ rennt er ein paar Stufen hinab und wieder hoch. „So haben wir uns warmgemacht.“ Das frühere Spielfeld von Ramiz Sadiku ist an diesem Nachmittag eine einzige Pfütze, nur an den Rändern wächst noch etwas Gras. „Immerhin ist der Platz heute eben, früher konnte man nicht von einem Ende zum anderen schauen.“ Mushica wird immer gesprächiger, lacht, schwärmt, wie er sich damals in den Schlamm warf, verdreckt nach Hause kam. Dann sagt er: „Ich wurde am falschen Ort zur falschen Zeit geboren.“
Die anderen Nationalspieler waren als Kinder mit ihren Familien nach Westeuropa geflüchtet. Den Kosovo kennen sie nur noch von Verwandtschaftsbesuchen. Mushicas Hauptkonkurrent Samir Ujkani etwa, der im Spiel gegen Haiti im Tor stand, wuchs in Belgien auf und steht als Ersatzkeeper beim italienischen Club US Palermo unter Vertrag. Andere spielen in Deutschland in der 2. Bundesliga oder in der Schweiz. Sie profitieren von professionellen Strukturen – und professioneller Bezahlung. Mushica will sein Einkommen nicht verraten, es werden aber kaum mehr als 700 Euro im Monat sein. Viel für kosovarische Verhältnisse, wenig für einen Nationalspieler. Während des Krieges flüchtete der damals 14-Jährige mit einem Teil seiner Familie für drei Monate in die Türkei zu Verwandten. Als Pristina wieder einigermaßen sicher schien, kamen sie zurück, auch weil Kushtrims älterer Bruder und sein Vater in der Hauptstadt geblieben waren. Dann begann das Nato-Bombardement. „Meine Eltern entschieden, dass wir das Land nicht mehr verlassen.“ Alle Familienmitglieder überstanden den Krieg unverletzt. Danach spielte wieder der Fußball die Hauptrolle in Mushicas Leben. Zunächst feuerte er als Ultra den FC Pristina in dem Stadion an, das er zuvor nur von außen gesehen hatte. „Dann stand ich selbst auf dem Platz.“
Länderspiel für die Geschichtsbücher
Vier Wochen vor dem Spiel gegen die Türkei bereitet sich Mushica mit dem FC Pristina auf den Ligaendspurt vor. Sein Trainer will, dass er fit bleibt und hat ihn für ein Trainingsspiel als Feldspieler aufgestellt. Er ist ein mitspielender Torwart, „wie Manuel Neuer.“ Mushica hält die deutsche Nummer 1 für den Besten in der Welt. Die Bundesliga verfolgt er jedes Wochenende, mit dem Kosovo-Schweizer Granit Xhaka von Borussia Mönchengladbach ist er eng befreundet, schreibt ihm regelmäßig SMS. „Wenn er hier ist, trinken wir immer einen Kaffee zusammen.“ Neid empfinde er nicht für den Millionär. „Ich gönne ihm den Erfolg.“
Mushica ist mit seinen Gedanken schon längst bei der Nationalmannschaft. Wird er am 21. Mai im Tor stehen? Ausgerechnet gegen die Türkei, wo er Monate seines Lebens verbrachte und noch immer Freunde und Verwandte hat. Er könnte türkische Vereine auf sich aufmerksam machen. Beim Erstligisten Bursaspor absolvierte er vor einigen Jahren ein Probetraining.
Er zählt die Tage. Die Türken gelten als stark, auch wenn sie sich nicht für die WM qualifizieren konnten. Die letzten drei Spiele, darunter gegen Schweden, haben die Türken alle gewonnen.
Das Match wird in Mitrovica ausgetragen, es ist das größte Stadion im Land. Und das einzige, das internationalen Ansprüchen genügt. Mushica weiß seit dem Morgen, dass sein Trainer ihn aufstellen wird. Das Stadion ist ausverkauft. Dass sie die Flagge des Kosovo nicht hissen, die Hymne nicht spielen dürfen, sind Auflagen des Weltverbandes FIFA.
Kushtrim Mushica steht mit der Nummer 23 im Tor. Und muss schon nach einer Minute hinter sich greifen. Ein Abwehrspieler vor ihm war ausgerutscht, der Türke Ahmet Ilhan Özek steht alleine vor Mushica und schiebt den Ball an ihm vorbei. 0:1. Kushtrim Mushica hat nun einen Platz in den Geschichtsbüchern sicher: als erster Torwart des Kosovo, der ein Gegentor kassierte. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
Danach pariert er zwei Mal glänzend, aber nach 34 Minuten steht es 0:2. Diesmal macht Mushica eine unglückliche Figur. Manuel Neuer hätte den Weitschuss wohl gehalten. Dann der nächste Moment für die Fußballhistoriker: Im direkten Gegenzug staubt Albert Bunjaku vom 1. FC Kaiserslautern zum 1:2 ab. Das erste Tor für den Kosovo. Eine Laola-Welle geht durchs Publikum und will nicht mehr aufhören. Halbzeitstand 1:2. Da geht noch was! Es geht nichts mehr. Zweite Hälfte – 1:3, 1:4, 1:5, 1:6. Abpfiff. Mindestens ein weiteres Gegentor hätte Mushica verhindern können. Müssen. Mit jedem Treffer der Türken drosch er den Ball frustrierter aus dem Tor in Richtung Mittellinie. Mit jedem neuen Treffer sah er seinen Traum von Europa davonrollen.
Mushica ist geknickt. Dann liest er am nächsten Morgen auf Facebook die ersten Kommentare auf seiner Seite: „We are proud of you!“, ein anderer postet: „Bravo, Kushtrim“.
Er bleibt eine große Nummer im Kosovo.
Links zum Thema: